von Björn Mohr


Quelle: Baran, Paul (1964) On Distributed Networks. RAND Cooperation

Was macht das Internet im Kern aus? Das ist eine der Fragen, mit der wir uns in diesem Jahr beschäftigen und die uns dazu geführt hat, uns mit den Geschichten des Digitalen Wandels zu befassen. Eines der wichtigsten Charakteristika, die das Internet ausmachen, ist Dezentralität. Und es lohnt sich hier einmal genauer hinzusehen, denn ebenso selbstverständlich wie das Dezentrale das Netz bislang ausgemacht hat könnte es ihm wieder genommen werden.

Wozu braucht es Dezentralität?

Dezentralität bedeutet vereinfacht gesagt, dass es keinen zentralen Knotenpunkt gibt auf den sich die anderen Punkte im Netz konzentrieren. Stattdessen können alle untereinander kommunizieren, ohne einen zentralen Punkt durchlaufen zu müssen, der diese Kommunikation kontrolliert. Diese Eigenschaft gilt als wichtigster Faktor für das Innovationspotenzial, dass das Internet uns bietet. Wer eine Webseite erstellen oder einen Online-Dienst anbieten möchte, muss keine Behörde um Erlaubnis fragen oder um eine begrenzte Ressource wie Sendefrequenz ringen. Telekommunikationsdienstleister stellen zwar die physische Infrastruktur bereit, welche Daten diese durchlaufen interessiert sie aber (vorerst) nicht.
Dies ist auch ein Ausdruck von Freiheit im Netz. Kein Knotenpunkt kann den Informationsfluss der anderen bestimmen. Wenngleich es weiterhin unterschiedlich wichtige oder häufig kommunizierende Knotenpunkte gibt, haben grundsätzlich alle Punkte aus Sicht der Infrastruktur die gleichen Startbedingungen – also einen fairen Zugang. Nach diesem Prinzip können wir die Webseite einer politische Initiative auf der anderen Seite ebenso gut erreichen, wie die lokalen Behörden unserer Heimatstadt.

Dezentralität zur Verteidigung gegen Nuklearschläge

Paul Baran entwickelte Anfang der 1960er Jahre das Konzept der Distributed Communications (siehe Titelbild). Dieses beschreibt was wir heute das dezentrale Netz nennen: ein Netzwerk, in dem ein Knotenpunkt einen anderen auf dem kürzesten verfügbaren Weg erreicht (der so genannte best effort). Entwickelt wurde das Konzept ursprünglich für das US-Militär, welches bei einem nuklearen Angriff auf wichtige Knotenpunkte weiter handlungsfähig bleiben wollte.
Auch für die nordamerikanischen Universitäten, welche nach dem Militär an der Entwicklung des Internets arbeiteten, war eine solche dezentrale Organisation dienlich. Jede betrieb ihr eigenes Netzwerk, welches sie nicht dafür aufgeben wollten, um sich mit anderen vernetzen zu können. Also entwickelte Bob Kahn das Transmission Control Protocol / Internet Protocol (TCP/IP), welches bis heute das Internet ausmacht. Mit diesem Standard wurde eine einheitliche Sprache zur Kommunikation zwischen den Netzwerken entwickelt, die so ohne eine zentrale Schaltstelle auskommen.

Zweifel an der der Sanduhr

Wir können uns das Internet als eine Infrastruktur mit mehreren Schichten vorstellen: Das Interface, die Software, die Standards und die physische Hardware. Nur auf der Ebene der Standards gibt es eine Zentralisierung, welche notwendig ist, damit die verschiedenen Teilnetze und Geräte miteinander kommunizieren können.
Der Kommunikationswissenschaftler Sebastian Deterding beschrieb diese Architektur 2010 mit dem Modell einer Sanduhr. In der Mitte liegt der Standard TCP/IP, welcher einheitlich für alle gilt. Darüber und darunter liegen Schichten auf denen unterschiedliche Anwendungen, Plattformen, Technologien und Interfaces existieren und zum Teil miteinander konkurrieren. Doch Deterding bezeichnet die Vorstellung, das Internet sei dezentral, als Mythos. Neben dem TCP/IP-Protokoll gebe es noch weitere Schichten des Internets, die zentralisiert sind: Browser, Standards (wie HTML und Flash) und Netzwerkbetreiber beziehungsweise Internetanbieter. Doch widerspricht diese Feststellung nicht wirklich der These, dass Internet sei dezentral. Vielmehr bestätigt sie das Modell einer Sanduhr, welche zur Mitte hin dünner (und damit zentralisierter) wird und an den beiden Enden sehr breit (dezentral) ist.

Die Gatekeeper

Allerdings macht Deterding auf zwei Entwicklungen aufmerksam, welche die Dezentralität bedrohen. So streben einige Internetkonzerne danach, eine der Schichten dieser Infrastruktur zu monopolisieren. Die so genannte Plattformisierung des Internets bedeutet, dass einer oder wenige Anbieter den Datenfluss im Netz kontrollieren, weil Drittanwendungen über ihre Plattform abgewickelt werden. Ein Beispiel hierfür ist Facebook Connect, welches zur schnellen Anmeldung und Identifikation auf Seiten Dritter eingesetzt wird. Facebook könnte damit ein Monopol bei der Identifizierung von Individuen erlangen, auf welche zahlreiche andere Seiten angewiesen sind.
Um ein möglichst dezentrales Internet zu erreichen, ist es wichtig, dass keine der horizontalen Schichten von einem Monopol bestimmt wird. Würden etwa alle Internetnutzer*innen der Erde eine Suchmaschine verwenden, um all ihre Tätigkeiten im Internet abzuwickeln, so könnte diese den Anbietern aller anderen Schichten ihre Regeln diktieren und hätte die ultimative gatekeeper-Position inne.
Es gibt jedoch Schichten, die notwendigerweise einheitlich sein müssen, damit alle miteinander kommunizieren können. Dazu gehört die Liste der Domainnamen und der dazugehörigen IP-Adressen, welche von der ICANN verwaltet werden. Bestimmte zentrale Elemente müssen also – wie öffentliche Güter – besonders geschützt werden. Sei es durch gemeinsame Standards (wie TCP/IP oder HTML), Bereitstellung durch die öffentliche Hand (das ist vereinfacht gesagt was ICANN ausmacht), durch Mindestansprüche, die alle Bürger*innen in Bezug auf das Netz haben oder effektive Wettbewerbsregulierung, die Monopole in einer oder mehreren Schichten verhindert.
Letzterer Aspekt bezieht sich auf die zweite Form von Zentralisierung des Internets, auf die Deterding hinweist – der vertikalen. Wenn etwa einzelne Unternehmen Produkte in mehreren Schichten anbieten und sich hieraus Synergieeffekte ergeben, die einen unfairen Wettbewerbsvorteil darstellen. Wenn ich das Smartphone des einen Herstellers nutze, so werde ich vermutlich auch dessen Apps, Dienste und Bezahlfunktionen verwenden, da sich dies meinen Alltag vereinfacht. Das ist grundsätzlich etwas Positives, weil es vieles bequemer macht. Doch es bedeutet auch, dass meine Wahlmöglichkeiten stark eingeschränkt werden. Lehne ich die AGB oder Funktionalität eines Dienstes ab, so muss ich in der Regel die gesamte Infrastruktur dieses Anbieters verlassen oder zumindest Einbußen hinnehmen.

Interoperabilität & Datenportabilität

Die Lösung hierfür lautet echte Interoperabilität. Das heißt, dass die unterschiedlichen Schichten kompatibel bleiben, auch wenn ich auf unterschiedliche Anbieter setze. In großen Teilen, ist der Wechsel von einem zu anderen oder gar die Kombination verschiedener Anbieter sehr umständlich. Bei den großen Plattformen ist das größte Problem die mangelnde Datenportabilität. Will ich von einem sozialen Netzwerk zu einem anderen wechseln, will ich meine Daten mitnehmen und weiterhin mit meinen Freunden kommunizieren können. Technisch ist das möglich, doch es entspricht nicht den Geschäftsmodellen der Anbieter.
Dezentralität ist kein Selbstzweck. Sie dient anderen Werten, wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung. Zudem ist sie Grundlage für zahlreiche Innovationen im Internet. Sie (wieder) zu erhalten lohnt sich für die individuellen Nutzer*innen, Startups und andere kleine Organisationen, denen sonst eine zunehmende Abhängigkeit von einigen wenigen Internetkonzernen droht. Ein dezentrales Internet ist ein Netz für die kleinen Leute.

Schreibe einen Kommentar